Das letzte Update

Bestimmte Dinge lassen sich einfach nicht aufhalten, sind sie einmal angestoßen. Darunter fällt der „SMS-Senden“ Knopf beim iPhone, die Folgen des Aufblinkens der „Empty Fuel“-Anzeige im Flugzeug und die Ablösung einer Software durch eine andere. Auch wenn ich mich schon sehr über Ersteres geärgert habe möchte ich über den letzten Punkt schreiben, in der Hoffnung das Zweite nicht zu erleben.

Im Ofen backt gerade ein Kuchen. Ein Ameisenkuchen. Mit Mohn. Wenn er fertig ist und abgekühlt ist wird er mit einer Schokoladenkuvertüre veredelt und ihn wird der Schriftzug „Laborbuch 1999 – 2009“ zieren. Es ist ein Geburtstag und doch auch ein Trauertag. Es ist ein Grund zu feiern, aber auch ein wehmütiger Rückblick. Doch wovon spreche ich eigentlich.

Wir schreiben das Jahr 1999. Ein kürzlich in den Ruhestand gegangener Doktor der Biologie befasst sich mit einer Datenbankumgebung namens Visual Fox Pro, die von der Firma Microsoft vertrieben wird. Er, ein guter Freund der Leiterin des Gewebetypisierungslabors, beginnt mit der Programmierung einer Laborsoftware, die Patienten, Proben und einige Ergebnisse verwalten sollte. Das „Laborbuch“ war geboren. Über die Jahre wuchs das Programm. Nach und nach entstand eine Heimat für sämtliche Messergebnisse und Zusammenhänge, die im Laboralltag dieses Labors auftreten konnten. Ob Daten von Kreuztesten, serologischen Typisierungen, molekulargenetischen Typisierungen, serologischen Antikörperuntersuchungen, immunologischen Ereignissen – das Programm fraß einfach alles und konnte alle Daten auswerten, zu Befunden oder Faxen drucken. Anfang des Jahres 2007 zog sich der Entwickler aus gesundheitlichen Gründen zurück und gab mir, der ich seit August 2006 im Labor arbeitete, ein paar Informationen mit auf den Weg, die ich brauchen würde um die Wünsche und Erweiterungen der Leiterin zu erfüllen.
Im Jahr 2007 hat das „Laborbuch“ dann also unter meiner Regie eine Renaissance erlebt. Ich wuchs am Programm und das Programm an mir. Neben profanen Dingen wie dem Druck von Etiketten kamen auch komplexe Funktionen dazu. So führte ich zum Beispiel die NMDP-Nomenklatur für Gruppierungen von Allelen in die Software ein. Eine weitere spannende Angelegenheit war das automatisierte Matching von Knochenmarkspendern und -empfängern, das die Qualität eines Spenders für einen Patienten bewerten und für die Klinik herausgeben konnte.
Sekunde, ich muss kurz nach dem Kuchen gucken… Ah okay.
Es gab jedoch ein paar negative Seiten. Die Datenbankstruktur ist ein einziges Chaos. Dies hängt einerseits mit der mangelnden Erfahrung des Entwicklers zusammen, unter dem das Programm zunächst entstand. Andererseits ist diese Art des Wachstums der Software nicht vorhersehbar gewesen, wodurch jede Erweiterung nur ein Aufbohren des alten Systems war. Man stelle sich das Haus der Weasleys aus den Harry Potter Büchern vor.

Unabhängig von dieser Entwicklung bekam im Jahr 1999 eine Berliner Softwarefirma den Zuschlag für die Entwicklung einer Laborsoftware. Nun zieht sich die Entwicklung des Moduls für die Gewebetypisierung auch schon viele Jahre hin. Bis Heute. Am 20. Oktober 2009 wurde nun also diese neue Software aktiviert. Das alte System lief pünktlich zum 19. Oktober aus. Die alten Daten wurden zum heutigen Tag übernommen.

Es ist wie ein kontrollierter Absturz des Systems. Ich erinnere mich daran, wie seltsam es für mich war, in den Nachrichten zu sehen, wie die in der Atmosphäre verglühende Raumstation MIR ihrem Ende entgegenrieselte.
Na doch, der Kuchen braucht noch ein paar Minuten…
Es ist richtig, die alte Software ließ sich kaum noch mit gutem Gewissen nutzen – vor allem für mich als Informatiker war das offensichtlich. Nichtsdestotrotz ist es schade. Es war eine Art OpenSource-Projekt am Kunden, der einem unmittelbar nach Veränderungen Feedback gegeben hat. Die Entwicklungen führten zu einer hochkomplexen und sehr modernen Software, deren Umfang durch die neue Software nicht einmal gedeckt wird.

Morgen werde ich das letzte Update für das Programm freigeben.  Es werden sämtliche Eingabemöglichkeiten  deaktivieret. Buttons werden deaktiviert. Viele Felder werden grau hinterlegt sein, da man sie nicht mehr ändern kann. Gewissermaßen eher ein Downgrade.

So backe ich also einen Abschiedskuchen für einen spannenden Teil meines bisherigen Arbeitslebens, als Abschiedskuchen für eine Epoche im Labor. Ich gehe davon aus, dass die Mitarbeiter die Veränderungen ähnlich betrachten, wenn auch nicht so sachlich. Es gehört einfach dazu, dass eine Software einem Lebenszyklus unterworfen ist. Außerdem muss sie einfach stabil und sicher sein, was nicht der Fall war. Dazu kommen noch politische Entscheidungen in höheren Etagen, denen man nur schwer etwas entgegensetzen kann.

In jedem Fall profitierten das Labor und ich gleichermaßen von der Entwicklung des Programms. Das Programm hat nun sein Ende, aber die Erfahrung wird mir zukünftig noch viel bringen. Zum Beispiel für mein inoffizielles Nachfolgeprogramm – eine Forschungsdatenbank die bereits jetzt 0,6 Millionen Laborergebnisse enthält… Nichts geht auf dieser Welt verloren.

Jetzt muss ich den Kuchen aber wirklich aus dem Ofen holen. Er sieht gut aus.

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