Silber

Ein sehr seltsamer Tag macht alles was ich sehe unbeweglich und sonderbar.

Vorhin bin ich zum Bahnhof gelaufen und habe Milch bei dem Türkischen Gemüsehändler gekauft, der jeden Tag offen hat. Ich wollte für meine WG Pudding kochen. Habe aber zu wenig Puddingpulver, ein Liter lohnt sich eigentlich nicht. Eigentlich sollte ich Biochemie lernen, es gibt zwar noch eine Chance, die Klausur zu schreiben, aber wenn es dann nicht klappt, verzögert sich mein Physikum um ein Semester. Das will ich eigentlich nicht riskieren. Aber irgendwie ist heute alles viel zu seltsam, um zu lernen, um die Zeit noch zu nutzen. Es ist so ein seltsames Licht. Ich ging vom Bahnhof nach Hause und viele seltsame Impressionen wirkten auf mich ein. Der Himmel war silbrig, er schien in allen Schattierungen, die den Namen silbrig noch verdienen. Ähnlich wie man es an einem Silvester-Morgen sehen kann. Das Wetter war eigentlich nicht schlecht. Es nieselte, schwach, aber es war klar und nicht zu kalt. Es ist dieses Wetter, das nur von drinnen schlecht aussieht, wenn man hinausgeht fühlt man, dass man lebendig ist.

Der Nieselregen ist kalt auf der Haut, aber nicht unangenehm. Das Licht gibt allem eine seltsame Farbe, einerseits hell, aber nicht strahlend, die Farben sind nicht kräftig. Wie als wenn man alles in Pastell malt, aber mit Hellgrau statt Weiß zum dämpfen der Farben.  Ich sah eine Frau, mehr oder weniger schick, die in ein Gebüsch verschwand. Ich sah den Gemüsehändler, der seltsam verträumt wirkte, obwohl er nie verträumt wirkt, wenn er ohne jegliche Mimik mit seinem kleinen Sohn in dem Laden steht und wartet. Ich nehme meine Pflanze, die den Sommer über auf dem Balkon stand und wische ihre Blätter sauber, weil vom Grillen noch Asche und Staub auf ihnen klebt. Ich sehe, dass meine Tomatenpflanzen langsam sterben, es ist schon zu kalt, ihre Zeit ist vorüber. Sie tragen noch die letzten Tomaten, jede noch zwei.

Ich schaue mit meinem Mitbewohner ein paar Folgen Emergency Room, Carter und Kovač sind im Kongo bei Ärzte ohne Grenzen und erleben und tun verstörende Dinge. Und ich denke darüber nach, ob ich das auch mal machen will. Ob ich das kann. Ob ich nicht Französisch lernen und mein Spanisch auffrischen sollte. Wann ich das am besten tun könnte. Im fünften Semester. Nach dem Physikum, wenn sie einen erstmal in Ruhe lassen, nachdem man vier Semester Stress hatte. Vielleicht werden es auch fünf. Bei einigen meiner Freunde steht schon fest, dass es fünf werden. Ich glaube, ich könnte damit leben, aber es wäre auch falsch, es nicht zu versuchen.

Also muss ich Biochemie lernen. Aber das Licht hält mich davon ab.  Alles dreht sich heute im Kreis.  Ich kann mich auf nichts lange konzentrieren. Ich kenne den Grund. Etwas wichtiges bahnt sich an. Was passiert ist schwer zu sagen. Das Licht hält alles in Stasis fest.

Ich werde warten, bis es dunkel ist.

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