Was du dir gleich mal abgewöhnen solltest …

Es ist eine dieser wundervollen Nächte gewesen, wo man erst kotzt bis nix mehr kommt, dann aber mit dem guten Gefühl lebt, aus der Scheiße auferstanden und um wichtige Lektionen des Lebens reicher zu sein.

Ich bin vor 20 Minuten von meiner zweiten Nachtschicht in DEM KRANKENHAUS zurückgekommen. 22.00 Uhr bis 7.00 Uhr. Und die erste Hälfte derselben war die Hölle. Ich hätte jemanden töten können. Ich hätte mich mit Hepatitis C anstecken können ( genau, die Sorte, gegen die es leider keine Impfung gibt … weil sie auch schlimmer ist als A und B ist das sehr praktisch). Und ich habe heute nicht einen, nicht drei sondern immerhin fünf solide Anschisse abgesahnt … wie gerechtfertigt sie waren ist schwer zu sagen, als Praktikant hat man ja keine Verantwortung (eigentlich) und muss nix können (eigentlich) … gesunder Menschenverstand ist trotzdem hilfreich. Und eben jenen habe ich heute nicht gerade bewiesen … als ich den Mann mit dem Hypertensiven Lungenödem ( Wasser in der Lunge – jede Silbe scheint einem OBACHT entgegenzubrüllen ) zum Pullern aufstehen ließ und er danach erstmal riiiichtig abgekackt ist, sehr schlecht Luft bekam und mit dem Blutdruck auch in ungesunde Gefilde aufstieg. Als ich die alte Lady mit der Hep C völlig schief und unbequem auf ihrer Trage hab liegen lassen, bis ich darauf hingewiesen wurde. Als ich einfach himmelschreiend unselbstständig war, jeden zweiten Punkt eines Auftrages nochmal nachfragen musste. Waren nicht meine Glanzmomente. Und natürlich der schöne Frustmoment, wo man den dritten venösen Zugang verkackt, aus dem, den der Arzt legt kein Blut abnehmen kann und dann rupft der Patient genau in dem Moment die Butterfly-Nadel aus seinem Arm, wo man ihr grade hätte ein wenig Blut entlocken wollen – dazu später mehr. Da dachte ich, dass mir alles über den Kopf wächst,  dass ich vielleicht nach Hause gehen sollte. Das war 23:30. Aber ich blieb.
Wichtigstes Zitat der ersten Hälfte: „Es ist ja schön, wenn du Medizin studierst, aber das ist doch keine Grund deinen gesunden Menschenverstand zu Hause zu lassen.“
Da konnte ich nur zustimmen.

Dann wurde ich wieder aufgebaut. Der Arzt D. meinte, ich sei zum Lernen, nicht zum Können hier. Die junge Schwester T. meinte, dass nichts auf meine Kappe geht, die Schwestern müssen mich anleiten, wenn nicht, kann ich nix dafür. Die erfahrene Schwester I. meinte, dass jedem diese Sachen passieren. Und alle waren sich einig, dass es eh eine Scheißnacht war.

Und siehe da, am Ende der Nacht hatte ich dann doch viele wichtige Dinge gelernt. Wie man mit Stress umgehen kann. Und viele kleine Dinge, die das Leben im Krankenhaus leichter machen. Zum Beispiel dauert es 20 Minuten, bis der Springer Seitengitter fürs Bett gebracht hat ( damit die alte Lady im Schlaf nicht raus plumpst – Gomers go to ground! ) und es dauert 30 Sekunden, eine Trage mit angebauten Seitengittern daneben zu stellen. Und dass ich mir das Stauen beim Blut abnehmen bei alten Menschen abgewöhnen sollte – man macht die laweden Venen damit eh nur kaputt. Steht nicht im Lehrbuch, stimmt aber.

Was mich oft am Krankenhausleben fasziniert, sind diese vielen kleinen cleveren Dinge. Ich kann mir kaum einen Ort vorstellen, wo so viel off-label-use praktiziert wird. Mit Absaugkathetern kann man auch Dinge irgendwo festbinden. In Einmal-Spucknäpfen kann man super Blutabnahme-Sets zusammenstellen. Mit Gefäßklammern kann man Pflaster-Rollen griffbereit an den Kittel dranbamseln. Mit Pflaster kann man sowieso alles machen.
Es ist diese kleine Kreativität, dieser je-praktischer-desto-besser-Gedanke, der überall da geboren wird, wo man improvisieren muss, weil man in Situationen kommt, an die vorher niemand gedacht hat, oder auf Anwendungen stößt, für die es kein Produkt gibt.

Das ist schön, das macht Spaß, daran kann man sich erfreuen.

Was heute vielleicht am wichtigsten war, hat keinen Spaß gemacht – es war ernüchternd … heute habe ich meinen ersten echten Gomer (Get Out of My ER) gehabt. Er war Jahrgang 1921. Er schaute mich an, sprach aber nicht, reagierte auf nix, was ich tat, außer dass er sich ungünstig spontan bewegte. Er hatte beschissene Venen, die erst wegrollten, dann platzten, wenn man sie getroffen hatte. Er roch nicht gut, er lag nicht still beim EKG-Schreiben. Er hatte jede erdenkliche altersbedingte Krankheit. Und man sah ihm an, dass er nie wieder gesund werden würde. So abgedroschen es ist – das ist moderne Medizin. Menschen leben in bedauernswerten Zuständen. Die Frage nach der Würde, und wo sie auf der Strecke bleibt. Das Los des Internisten ist es, Menschen nicht zu heilen, sondern nur ihren Zustand von mies auf schlecht zu verbessern. Denn mehr kann man für den Großteil der Leute nicht tun. Das ist verdammt hart, es ist hart, wenn man es erstmals wirklich begreift, begreift, was es bedeutet, jemandem nicht helfen zu können, was auch immer man tut. Das man selbst, die eigenen Großeltern sich darauf hinbewegen. Und es bleibt hart, wenn man 10 oder 25 Jahre dabei ist.

Ich bilde mir ein, dass wenn ich nach dieser Nacht mehr Lust auf das Studium habe und der nächsten Nacht mit Spannung entgegensehe, das ein gutes Zeichen ist. Man kann die negativen Aspekte nicht ausblenden. Sie gehören dazu. Wenn man das nicht akzeptiert, wird man sehr schnell sehr unglücklich. Wenn man es akzeptiert, kann man was dagegen machen, sich darauf einstellen. Man kann versuchen, vorbereitet zu sein.

Es war eine hässliche, beschissene Nacht, die keinen Spaß gemacht hat, in der ich Fehler gemacht habe. Aber sie war notwendig. Ich bilde mir nicht ein, aus dem Gröbsten raus zu sein, bei weitem nicht. Aber ich kann jetzt mehr und das beruhigt mich.

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